Episode 1: Wie wird man eigentlich lesbisch?

Das ist einfach erklärt.

Gar nicht.

Man kann nicht lesbisch „werden“. Man kann sich das nicht „aussuchen“ oder „darauf hinarbeiten“. Bisexualität ist keine Phase, die letzten Endes irgendwann dazu führt, dass man lesbisch wird. Bisexualität ist kein Zwischenschritt zur finalen Homosexualität.

Wie also kam es dazu, dass ich mich als Jugendliche als bisexuell outete und nun als lesbisch? Auch das ist einfach erklärt: ich war niemals bisexuell.

Spulen wir etwas mehr als ein Jahr zurück, um das zu verstehen.

2019

2019 war für mich ein sehr aufregendes Jahr. Ein Jahr voller Neuerungen und Änderungen in meinem Leben. Das alles begann mit einer Mutterkur in Bayern. Ich, umgeben von verheirateten Frauen, die am Rande der Erschöpfung waren. Eine lehrreiche Zeit und für mich persönlich auch der erste Schritt in Richtung meines „finalen Outings“.

Mein Leben ist voller Männer, die mir mein Leben erklären wollen

Damals wusste ich bereits seit langer Zeit, dass ich mich von meinem Mann trennen wollte. Aber dafür brauchte ich Kraft. In der Hoffnung diese wiederzuerlangen, besuchte ich die Kur. Vor Ort lernte ich fantastische Frauen kennen und war umgeben von Stärke, Zusammenhalt und vor allem Mut. Mut, etwas zu verändern. Und das beeindruckte mich. Zugleich gab mir der Aufenthalt so viel Kraft, dass ich noch heute davon zehren kann.

Das gesamte Pflegepersonal bestand aus Frauen. Bis auf die zwei Ärzte, die für die wöchentliche Kontrolle zuständig waren. Ich erinnere mich lebhaft daran, dass ich bei meinem ersten Besuch bei einem der beiden Ärzte von meiner anstehenden Trennung berichtete. Der Arzt versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich mir das doch überlegen sollte, da das alles vielleicht nicht so schlimm ist, wie ich es mir einredete. Ich empfand das damals unfassbar übergriffig und leichtsinnig, weshalb ich dieses Thema beim Abschlussgespräch erneut ansprach.

Natürlich war er sich keiner Schuld bewusst und sah auch keinerlei Risiken darin, einer ihm unbekannten Frau zu empfehlen, sich nicht zu trennen, obwohl er keinerlei Hintergründe kennt.

Aber ich sah die Fragezeichen über seinem Kopf. Schließlich fragte er mich: „Was konnten Sie an ihrem Mann am wenigsten leiden? Was geht Ihnen auf den Wecker?“. Und ich antwortete ihm: „Dass er keine Frau ist.“.

Die lesbische Erleuchtung

Auch heutzutage denke ich noch sehr viel über diesen Austausch nach. Dass ausgerechnet ein Mann, welcher mich von der Heterosexualität überzeugen wollte, der Mensch sein würde, der als Erstes davon erfährt, was mich wirklich seit Jahren plagt, hatte ich nicht erwartet.

Kurz darauf „outete“ ich mich bei meiner Mutterbande vor Ort. Auch dieses Outing verlief entspannt und war für mich geradezu erleuchtend. Ich lernte von diesen wunderbaren Damen, dass ich liebenswert bin – und zwar genau so, wie ich war und bin. Das stimmte mich zuversichtlich. 

Erwartungen

Die Mutterkur war zu Ende, doch für mich war das erst der Anfang. Ich fasste meinen gesamten Mut zusammen und tat das einzig Wahre: Ich warf mich in das Haifischbecken namens Online-Dating. Mit rund 33 Jahren. Als bisher heterosexuell lebende, bisexuell denkende, aber – inzwischen weiß ich das ja besser – homosexuell fühlende Frau. 

Und ja, ich entsprach dem Klischee der useless lesbian. Ich wischte Frauen in all den Apps hin- und her, ich matchte Frauen und ich … schrieb sie nicht an. Ich wagte mich so weit vor, dass ich ein Like hinterließ, aber eine Nachricht? Puh. Bis es irgendwann Klick machte und ich es doch tat. 

Mein erstes Date verlief zweckmäßig, wenn man das so bezeichnen kann. Was ich daraus mitnahm? Inhaltlich eher wenig, gefühlstechnisch sehr viel. Ich erlebte meinen ersten Kuss mit einer Frau.

Dazu muss ich sagen, dass ich in meinem Leben schon so einige Männer geküsst habe, aber nie verstehen konnte, was daran so besonders sein soll. Zungenküsse? Fürchterlich. Doch dann erlebte ich dasselbe Spiel mit einer Frau und war – sagen wir, angetan. 

Daheim angekommen konnte ich kaum glauben, was ich noch kurz zuvor erlebt hatte. Die Gefühle sprudelten nur so aus mir heraus und es fiel mir schwer, das alles einzuordnen. Was ich dadurch aber sehr sicher wusste: das fühlt sich gut an und ich möchte mehr. Wenn auch nicht unbedingt mit Tür Nummer 1.

Also versucht ich Tür Nummer 2. Ein Date, welches zwar auf beiden Seiten vollkommen ohne Gefühle verlief, aber mich durch die Gespräche aufhorchen ließ.

Biphobie

Biphobie ist real – sowohl in der heterosexuellen als auch homosexuellen Welt. Ich persönlich habe als bisexuell geoutete Frau sowohl erlebt, dass Männer mich fetischisieren als auch erlebt, dass lesbische Frauen ablehnend reagieren, sobald sie von der Bisexualität erfahren.

Während ich mit meinem zweiten Date in einer gemütlichen Bar saß, fragte sie mich, warum ich in meinem Profil angegeben hatte, dass ich bisexuell sei. Ich überlegte, konnte ihr darauf aber tatsächlich keine Antwort geben. Sie hakte nach und fragte, ob ich denn auch auf der Suche nach Männern sei. Und da dämmerte es mir.

Nein, das war ich nicht. Ich wollte keinen Mann mehr. Ich wusste, dass mir in Beziehungen mit Männern immer etwas gefehlt hatte, aber nie, was genau. 

Vermutlich hat man den gefallenen Groschen bis Hamburg gehört. Und selbst, wenn das Date sonst eher freundschaftlich ablief, sorgte es bei mir für einen ungemeinen Fortschritt. Ich war lesbisch. Ich bin lesbisch. Ich wollte es in die Welt hinausposaunen. 

Mein drittes Date endete damit, dass ich mit meinem kommenden, vierten Date Sprachnachrichten austauschte und mich darüber beklagte, wie anstrengend Dates sind. Doch in diesem Fall war etwas anders. 

Ich fühlte etwas. Mehr noch als während des Kusses beim ersten Date. Ich fühlte Anziehung, Verständnis und zugleich die Sorge, dass ich mein vielversprechendstes Date mit meiner Tollpatschigkeit und Fettnäpfchen-Spürnase überrumpeln würde. Glücklicherweise bin ich aber sehr charmant.

Ein Neuanfang

Date Nummer Vier ließ mich warten. Ich schlug zwar ein spontanes Date vor, doch musste sie vorab im Ausland die Welt retten, was immerhin eine ganz okaye Ausrede war. Wir schrieben täglich. Mehrmals. Wir schickten uns Sprachnachrichten, GIFs und telefonierten. Sehr, sehr lange am Stück. Das alles war neu für mich.

Ich wusste inzwischen, wie Dates ablaufen, doch fühlte sich das hier ernster an. Schließlich, nach zwei Wochen regen Austauschs, sollten wir uns treffen. Mir war schlecht. Ich war besorgt, dass sie mich im echten Leben nicht ganz so toll fand, wie im virtuellen. Ich war besorgt, dass ich kein Wort herausbringen würde. Und schließlich öffnete sich die Tür der Regionalbahn und ich erblickte sie. 

Lederjacke und rotkariertes Hemd. Ein Wunsch von mir, um dem Klischee zu entsprechen, was wir immer wieder unterhaltsam auf die Schippe nahmen. Ich erblickte sie inmitten der Menschenmassen und sie sah mich an, offensichtlich genau so unsicher wie ich – und das obwohl sie doch die Veteranenlesbe war. 

Ich lief auf sie zu und spürte, dass mein Herz schneller schlug. Um nicht umzukippen, tat ich das in diesem Moment mir einzig sinnvoll Erscheinende: Ich nahm ihre Hand, was sie etwas perplex registrierte, aber dann offenbar genoss. 

Wir schlenderten Hand in Hand durch die Stadt und erstmals in meinem Leben registrierte ich, dass umstehende Menschen auf Zuneigung zweier Menschen mit fragenden Blicken reagierten. Ich fühlte mich einerseits unsicher, da ich das bisher noch nie erlebt hatte. Andererseits fühlte ich mich so sicher wie noch nie in meinem Leben. Ich fühlte mich gut aufgehoben, angekommen.

Augenblicke

Letzten Endes kamen wir auch irgendwann dort an, wofür wir uns ursprünglich trafen. Im Kino. Der Plan war, dass wir uns gemeinsam Captain Marvel anschauen. In den ersten Minuten klappte das auch, doch spielten meine Gefühle während des Films verrückt.

Erinnert ihr euch an eure Zeit als Teenager, als ihr das erste Mal mit eurem Schwarm im Kino wart und jede Berührung eines Ellenbogens oder eines Knies euch elektrisierte? Nein? Ich auch nicht, denn das hatte ich bisher noch nie erlebt. Mit 33 Jahren empfand ich das das erste Mal. Ich konnte mich nicht auf den Film konzentrieren, da ich so angetan war und die Schmetterlinge fast aus mir herausbrachen.

Ich versuchte ihre Hand zu nehmen, legte sie aber wieder zurück, da ich ihre Berührung kaum aushielt. Das alles war neu, sehr neu. Ob ich in mein Dating-Profil vielleicht schreiben sollte, dass ich lesbisch bin? Bin ich lesbisch? Was macht sie nur mit mir?

Offensichtlich war ich mit diesem Gefühl nicht allein, denn auch mein Date, Frau Veteranenlesbe, konnte meine Berührungen im positiven Sinne kaum ertragen. 

Irgendwann war der Film zu Ende, wir dinierten und schließlich war da ein Kuss. Ein sehr langer Kuss. Und ja, mit Zunge. Ich erinnerte mich erneut an das Gefühl bei meinem ersten Date, doch unterschied sich dieses deutlich von dem, was ich bei Date Nummer Vier erlebte. Ich wollte nicht aufhören. Ich fühlte mich frei, ich fühlte, dass genau das, das ist, was ich brauche, was ich möchte und was mir zusteht.

Liebe.

Oh nein, keine Sorge. Man sagte Lesben zwar nach, dass sie beim zweiten Date direkt mit dem Umzugswagen vor der Tür stehen, doch war das bei uns natürlich nicht so. Vergessen wir nicht, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch in einer Art WG mit meinem Ex-Mann lebte. Zudem habe ich zwei Kinder und eine vielleicht nicht ganz tolerante Familie, die auch noch von allem erfahren musste.

Aber das blendete ich in diesem Moment aus. Auf das erste Date mit meiner Veteranenlesbe folgte ein zweites. Dann ein drittes. Ein viertes und … nun, inzwischen bin ich seit fast 1,5 Jahren mit dieser wunderbaren Frau zusammen.

In dieser Zeit habe ich sehr viel über mich gelernt. Mir wurde bewusst, was genau mir in der Zeit mit Männern gefehlt hat. Erstmals in meinem Leben fühlte ich mich in meinem Körper wohl. Erstmals in meinem Leben, war ich glücklich – ohne wenn und aber. Ich war angekommen. Dort, wo ich so lange hinwollte. 

Ich musste mich nicht mehr verstellen und konnte die Person sein, die ich so viele Jahre unterdrückt habe. Ich hatte so viele Jahre Angst, dass etwas mit mir nicht stimmt, weil ich für Männer nicht das empfand, was sie für mich empfanden. Wer hätte gedacht, dass das daran lag, dass sie keine Frauen sind.

Das Titelbild wurde freundlicherweise von Becca-draws-Stuff zur Verfügung gestellt, welche in ihrem Kunstwerk die Farbgebung der lesbischen Flagge verwendet hat, um die Landschaft zum Leben zu Erwecken.
Hier geht es zu ihrem Profil bei DeviantArt.

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