Episode 4: Mut

Wir alle erleben gerade anstrengende Zeiten. Durch die Pandemie wird unser Alltag durcheinandergewirbelt. Wir sorgen uns um Geld, Arbeit oder die Gesundheit. Doch habe ich in den letzten Monaten vor allem viel dazu gelesen, dass die fehlende Nähe zu Menschen den meisten sehr schwer fällt. Ich habe gelesen, dass Witze darüber gemacht werden, dass wir alle nach der Pandemie wieder lernen müssen, wie soziale Interaktion funktioniert. Ich habe gelesen, wie einsam Menschen sind, die sich nicht in einer Beziehung befinden. Ich habe gelesen, wie sich Menschen nach Berührungen und Liebesbeweisen verzehren. 

Diese Sehnsucht kann ich gut nachempfinden, denn ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man auf Bezugspersonen, Nähe, tiefgründigen Kontakt und Zuneigung verzichten muss. Dass ich mich nicht vorher traute, einer Frau Zuneigung zu zeigen oder mein Coming-Out zu vollziehen, kommt nicht von ungefähr.

Das Aufwachsen

Ich bin in einer instabilen Familie aufgewachsen. Bis heute begrenzt sich der Kontakt zur fernen Verwandtschaft auf Familienfeiern, bei denen ich keine große Lust habe, mich mit den Menschen auseinanderzusetzen, die durch die Blutsbande mit mir verknüpft sind. Ich wurde bei der letzten Familienfeier gefragt, warum ich das nicht tue. Und nun, ich verbinde abseits meiner Schwester absolut gar nichts mit meiner Familie. Keine Zuneigung, keinen Respekt, keinen Trost, keine Unterstützung, keine Liebe. 

In meiner letzten Therapiestunde wurde ich gefragt, ob es in meinem Leben Bezugspersonen gab, zu denen ich aufschaute, die mich unterstützten. Ich dachte lange nach, fand im ersten Moment aber keine Antwort auf diese Frage. Schließlich erinnerte ich mich an eine Abteilungsleiterin meiner Ausbildungsfirma, deren Stärke ich deshalb bewunderte, da sie zugleich andere Menschen, inklusive mir, zur Stärke ermunterte. Das hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt, ich war 19, noch nie erlebt.

Bevor mein Erstgeborener auf die Welt kam, verschlang ich Bücher zum Thema Erziehung, da ich absolut keine Ahnung davon hatte, wie man Kinder großzieht. Ich wusste aber, dass die Herangehensweise meiner Eltern nicht die Richtige war. Ich wollte es besser und anders machen. Dabei stieß ich erstmals auf das Wort Urvertrauen.

Das Urvertrauen entsteht durch sichere Bindungen. Durch Umarmungen, wenn wir Trost brauchen. Durch Nähe, wenn wir unsicher sind. Durch Zuhören, wenn wir uns mitteilen. Durch Kommunikation auf Augenhöhe. Das Urvertrauen gibt uns emotionale Sicherheit, es stabilisiert uns, es lehrt uns mit Krisen umzugehen. Zugleich ermöglicht es uns zu glauben, dass wir es wert sind, geliebt zu werden, weil man unseren Bedürfnissen zuhört. Wenn ein Kind erfährt, dass es sich auf die Nähe und Fürsorge einer Bezugsperson verlassen kann, fühlt es sich umso sicherer in einer Beziehung. Was aber, wenn es nie gelernt hat, wie eine gesunde Beziehung funktioniert? Fehlt das Urvertrauen, kann das, wie bei mir, Auswirkungen haben, die einen Menschen das ganze Leben über begleiten. Wenn man als Kind gelernt hat, dass man es nicht wert ist, gehört zu werden, ersetzen tiefe Zweifel und Urängste den Platz des Urvertrauens.

Als ich gefragt wurde, ob ich mich an Interaktionen mit meinen Eltern erinnere, die mit Nähe zu tun haben, war ich erneut sprachlos. Denn ich erinnerte mich nicht an eine Situation, in der meine Sorgen wahrgenommen wurden. Ich erinnere mich nicht an eine einzige Umarmung meiner Mutter. Ich erinnere mich nicht an Trost. Ich erinnere mich nicht an Gespräche, in denen ich über meine Gefühle reden konnte. Die Folge? Das Werkzeug der Taten, der Liebesbeweise durch Gesten, ist mir vollkommen unbekannt. Zudem fällt es mir bis heute schwer, jemanden um Hilfe zu bitten, da die gelernte Angst vor der Abweisung gigantisch ist. Wenn das Glück mich doch einmal trifft, fordere ich es heraus, da ich nicht glauben kann, dass es bei mir an der richtigen Adresse gelandet ist. 

Die Konfrontation

In der letzten Folge sprach ich davon, dass ich mir mein Basiswissen im Bereich der emotionalen Kommunikation hart erarbeitet habe. Ich habe zwei Mütter in meinem Leben kennengelernt, die anders handelten als meine eigene. Diese Mütter haben ihren Töchtern das gegeben, was mir selbst fehlte. Es mag nicht dafür gesorgt haben, dass deren Töchter ohne Selbstzweifel aufwuchsen, doch sorgte es dafür, dass sie wissen, dass es jemanden in ihrem Leben gibt, der sie ernst nimmt und Trost spendet, wenn sie es brauchen. Ohne Worte, die ihr Handeln in Frage stellen. Ohne Schuldzuweisungen. Ohne Respektlosigkeit.

Zwei Menschen in meinem Leben sagten mir jeweils mehr oder weniger direkt, dass sie überrascht seien, dass ich ob der Umstände in meinem Leben kein Arschloch geworden bin. Das mag daran liegen, dass ich durch die Kälte meiner Kindheit feinfühlig wurde. Ich spüre negative Stimmungen lange bevor sie tatsächlich auftreten. Durch mangelhafte Kommunikation innerhalb der Familie musste ich lernen, das Verhalten meiner Mitmenschen zu lesen und zu deuten, um zu Überleben. Selbstschutz. Mehr oder weniger. 

Doch ist es das tatsächlich? Primär kann man sagen, dass ich diese Fähigkeit entwickelte, um mich vor noch mehr Kälte zu schützen. Ich wollte als Kind verhindern, dass ich noch mehr Schaden nehme, indem ich weitere Aggressionen vorhersehe. Am Tag der Trennung wusste ich bereits, dass es genau darauf hinauslaufen wird. Gebracht hat mir dieses Wissen allerdings nichts. Im Gegenteil. Dadurch, dass diese selbsterfüllende Prophezeiung tatsächlich eingetreten ist, war ich umso versteinerter. Sprachlos.

Zugleich schaltete mein Kopf in den automatischen Modus und versuchte meine Ex-Freundin zu trösten. Es erschien mir in diesem Moment wichtiger, dass sie Halt findet.

Selbstzerstörung

Ich sprach mit ihr häufig über meine selbstzerstörerischen Verhaltenszüge, doch war mir damals nicht bewusst, warum ich dem nichts entgegenzusetzen habe. Kürzlich ging es in meiner Therapie genau darum. Auf meine Frage, warum ich glaube, so zu handeln, erwiderte ich, dass ich vermutlich glaube, dass ich es verdient habe. Dass ich Schmerz verdient habe. Dass ich Hoffnungslosigkeit verdient habe. Dass ich es verdient habe, nicht geliebt zu werden. Ich weiß tief in mir drin, dass das nicht so ist, aber mein Verstand ist leider manchmal ohrenbetäubend. Und genau das ist es nun einmal, was mir meine Kindheit mitgegeben hat.

Mein Leben lang dachte ich, ich hätte die Liebe und Zuneigung nicht verdient. Respekt nicht verdient. Irgendwann gab ich auf nach ihr zu rufen und ignorierte meine Bedürfnisse. Ich sinnierte darüber, was mich zu jeder einzelnen Beziehung in meinem Leben bewogen hat. Warum heiratete ich einen Mann, obwohl ich lesbisch bin? Einerseits natürlich, weil ich damals noch nicht wusste, dass ich lesbisch bin. Andererseits wohl deshalb, und das habe ich erst vor ein paar Wochen verstanden, weil er mir das gab, was mir bis dahin in meinem Leben gefehlt hat: Respekt. In der Beziehung zu ihm, zu einem Mann, keinem Jungen, erfuhr ich das erste Mal echte Wertschätzung ohne Respektlosigkeiten im Kreis der Freunde, ohne Erniedrigung. Mein junges Ich sah die Hochzeit als Chance, dieses Gefühl etwas länger in meinem Leben zu erhalten.

War es selbstzerstörerisch von mir, eine Ehe einzugehen, wenn ich doch nebenher das Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmt und etwas in meinem Leben fehlt? Vielleicht. Ist es selbstzerstörerisch, jede Handlung meines Lebens zu hinterfragen und in ein Podcast-Format zu pressen? Vermutlich. War es selbstzerstörerisch, die Liebe zu hinterfragen und sowohl sie als auch mich zu sabotieren, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass ich sie verdiene? Definitiv.

Ist es selbstzerstörerisch, wenn ich mich nicht dazu imstande fühle zu hassen, da ich mir noch nie so sicher war wie bei der Liebe? Nun, so überzeugend ich auch sein kann, ich kann mich nicht zum Hass überreden und vielleicht ist auch das tatsächlich eine Art der Selbstzerstörung. Vielleicht ist es aber auch meine unterdrückte Superkraft, trotz all der Hoffnungslosigkeit im Leben die Hoffnung niemals zu verlieren. Die Hoffnung, dass mein Leben gut werden kann, wenn ich es zulasse. Immerhin habe ich einige Schritte in genau diese Richtung bereits hinter mir.

Der Mut zur Stärke

Vor 17 Jahren wurde das Finale der Serie Buffy ausgestrahlt. In dieser letzten Episode hält sie eine mitreißende Ansprache darüber, dass wir alle die Kraft in uns haben, um etwas zu verändern, um uns zu wehren, um aufzustehen, wenn wir am Boden liegen.

Als Kind wusste ich nicht, durch welche Handlungen ich dafür sorgen kann, geliebt zu werden, da sämtliche Versuche innerhalb der Familie scheiterten. Wie also sollte es mir als Jugendliche gelingen, einen Menschen von mir zu überzeugen, wenn mir doch niemals jemand beibrachte, dass ich dafür gut genug bin? Wie kann man von mir erwarten, dass ich weiß, was Selbstfürsorge tatsächlich bedeutet, wenn ich doch nur lernte, wie ich mich selbst am effektivsten sabotiere?

Inzwischen sind 17 Jahre seit dem Finale von Buffy vergangen. Ich habe noch immer nicht wirklich verstanden, wie man einen Menschen tröstet, da mein Kopf in diesen Situationen meinen bisherigen Schutzmechanismus aktiviert, wodurch ich versuche, die Situation zu analysieren und nach einer logischen Lösung zu suchen, statt das Gefühl wahrzunehmen. Doch ich weiß, dass ich auch das lernen kann. Ich bin gerade mal 35 Jahre alt und habe noch einige Jahre vor mir. Vor ein paar Wochen sah ich das erste Mal in die Augen eines Menschen und spürte etwas. Trotz der Antidepressiva, die das eigentlich sehr effektiv blockierten. Ich spürte Schmerz, Trauer und Enttäuschung. Das veränderte etwas in mir. Es sorgte dafür, dass sich einer der vielen Knoten löste. Ich merkte, dass ich die Fähigkeit, etwas zu spüren, vielleicht irgendwann verlernt hatte, sie aber tief in mir verwurzelt ist und nur darauf wartet, wieder zum Zug zu kommen.

In den letzten zwei Jahren habe ich sehr viel über mich selbst gelernt. Ich lernte etwas über Ansprüche an mich oder an meine Mitmenschen. Ich lernte, wie es sich anfühlt zu lieben. Ich lernte vom Mut, einem anderen Menschen die Hand zu reichen. Ich lernte etwas über die Macht der Worte und ich lernte etwas über die Macht der Taten.

Die Therapie konfrontiert mich mit vielen Dingen in meinem Leben, die diverse Folgen für eben jenes hatten. Und das ist gut. Denn wenn ich verstehe, warum ich so bin wie ich bin, kann ich meinen Weg verändern und neue Wege ausprobieren. Ich kann aufstehen und ich werde aufstehen. Denn ich bin bereit für die Stärke, die mich erwartet und bin gewillt, dafür auch erneut meine Mauern fallen zu lassen. Ich weiß, dass ich meine Vergangenheit nicht ändern kann, aber ich habe es in der Hand, meine Zukunft zu beeinflussen.

Das Titelbild wurde freundlicherweise von Alice Bouchard aka Tyliss zur Verfügung gestellt. Eigentlich wollte ich dieses Titelbild bereits für die Episode Carol nutzen, doch passt es auch zu dieser Episode perfekt. Mein Leben lang hatte ich das Gefühl, dass ich mich und mein Verhalten erklären muss. Ich wünschte mir, dass man mein Handeln hinterfragt, aus Angst, dass mich andere Menschen sonst missverstehen.

Mehr Kunst von Alice findet ihr bei DeviantArt oder Instagram.

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert